Mahnmal, Geschichtsprojekt, Kunstwerk
Petra T. Fritsche engagierte sich mit anderen Aktivisten der Friedenauer Initiativgruppe nicht nur für die Verlegung der 57 Stolpersteine und die Stolperschwelle vor einer ehemaligen Synagoge in der Stierstraße, sondern sie hat mit ihrem Buch „Stolpersteine – Das Gedächtnis einer Straße“ ein umfassendes Werk vorgelegt, dass sich unbedingt zu lesen lohnt.
Meine Begeisterung ist nicht allein der Bewunderung dafür geschuldet, dass Frau Fritsche als ehemalige Direktorin des Internationalen Studienzentrums Berlin der Freien Universität sich dieser Dissertation im wahrsten Sinne des Wortes verschrieben hat, sondern sie öffnet der Leserschaft die Augen für historisch-politische Entwicklungsverläufe der deutschen Gedenkkultur nach 1945. Sie setzt sich nicht nur kritisch mit der Art und Weise sog. Wiedergutmachungs- bzw. Entschädigungsprozesse als einem Versuch der Vergangenheitsbewältigung auseinander, sondern zeigt Nachkriegsnetzwerke von Profiteuren, Unterstützern und „ Ariseurern“ auf, die Verbände Judengeschädigter gründeten und in ihrer Zeitung „Restitution“ offen antisemitisch agierten. Erst die Rückkehr der Exilanten Horkheimer und Adorno an die Frankfurter Universität vermochte die antifaschistischen Kräfte in Deutschland ab 1948 zu unterstützen. Sie erklärt mit Mitscherlich, wie es zu der Verwandlung von Schuldgefühl und Scham in Selbstmitleid kommen kann und zieht die Psychoanalyse als Form kritischer Selbstbesinnung heran, um sich den Umgang mit Trauer als kognitivem und emotionalem Prozess der Bewusstmachung anzunähern. Nach Adorno „führt Wissen (allein, d. Verf.) nicht zur hellen Erkenntnis, sondern zu Verdrängung und Abwehr.“
Petra T. Fritsche widmet sich der Darstellung des NS-Terrors in Film und Literatur der frühen Nachkriegsjahre und den Grundlagen philosophischer Vergangenheitspolitik und macht uns in ihrem Kapitel „Erinnern und Gedenken“ kenntnisreich mit unterschiedlichen Denkansätzen zum kollektiven Gedächtnis vertraut. Wir verstehen, dass Erinnern ein dynamisches Geschehen (M. Halbwachs), ein gegenwärtiger Prozess ist, mit dem Vergangenes in den aktuellen Lebenszusammenhang integriert wird. „Es bewahrt nicht Tatsachen, sondern rekonstruiert Geschichte nach Bedarf und Zeitgeist.“ (M. Halbwachs. Franz. Soziologe u. Philosoph, gest. 16.03.1945 im KZ Buchenwald).
Die Verfasserin weist uns den Weg zu den Stolpersteinen als retrospektiver Erinnerungskultur, die die Menschen vor dem Vergessen bewahren wollen, indem sie ihre Namen vergegenwärtigen. Bedeutsam ist es, das Erfahrungsgedächtnis der Zeitzeugen, das kommunikative, im Alltag verhaftete, in das kulturelle Gedächtnis der Nachwelt zu übersetzen (Assmann, J.u.N).
Petra T. Fritsche lässt in ihrem Buch auch Vorbehalte zu, „die Steine werden mit Füßen getreten,“ lässt uns an ihrer Spurensuche in der Stierstraße und den Biographien ihrer verfolgten Anwohner teilhaben und sie führt weitere Beispiele für neue Formen des Gedenkens an.
Die Stolpersteine sind in der Alltagswelt der deutschen und mittlerweile auch europäischen Öffentlichkeit angekommen. In Israel weisen die Printmedien darauf hin, seit 2012 existiert ein Geschichtsprojekt. Die hier erscheinende Jüdische Allgemeine brachte mehrfach Artikel zu dieser Initiative, die eine neue Gedenkkultur schafft, indem sie gestaltend eingreift und die Trennlinie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit wie zwischen politischer und kultureller Öffentlichkeit nivelliert. Ein Kommunikationsraum entsteht, Verbindungen zwischen Bürgern, die engagierte Biographiearbeit leisten, zwischen Stolpersteinpaten und Angehörigen, auf deren Wunsch sie häufig verlegt werden.
Die Beteiligungsmöglichkeiten sind derart vielfältig, dass sich auch Jugendliche und Schulklassen angesprochen fühlen. Auf diesem Weg erfahren und erfühlen sie das Schicksal einzelner Menschen unter dem Terrorregime der Nationalsozialisten, Mitbürger, die jetzt wieder bei ihrem Namen genannt und so der vollständigen Vernichtung durch Vergessen entrissen werden. Das Kunstwerk entwickelt sich dynamisch weiter – in Europa gibt es mittlerweile 45.000 Stolpersteine in 18 Städten, in Berlin sind es allein 5.500 – und wurde zum größten dezentralen Mahnmal weltweit.
Stolpersteine sind kein Denkmal für Feiertage und Ansprachen, sie liegen mitten unter uns, ein Ort des Erinnerns, ein Angebot des Fühlens im Innehalten. Sie sind „das Gedächtnis einer Straße.“
Sibylle Schuchardt
Petra T. Fritsche
Stolpersteine – das Gedächtnis einer Straße
Das umfassende Stolperstein-Buch
532 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-86573-808-0
Wissenschaftlicher Verlag Berlin